Mittwoch, 26. Oktober 2011

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Wem gehört das Land?

Bücher über Eigentum und Häuserbau in Istanbul 

fluter.de 9.10.2009 | Antonia Herrscher |

Vor einiger Zeit bewohnte ich in Istanbul ein WG-Zimmer im relativ zentralen Bezirk Sisly. Die mehrheitlich von gehobener Mittelschicht bewohnten Häuser schienen aus den neunziger Jahren zu stammen. Dennoch konnte man an der Gegend alle Phasen des rasanten Wachstums einer Stadt ablesen, die seit den 1950er-Jahren von weniger als einer Million auf heute etwa vierzehn Millionen Einwohner/innen angewachsen ist. Vereinzelt klebten noch winzige bäuerlich wirkende Häuschen (Gecekondus) neben sechs bis zehngeschossigen Apartmenthäusern. Als ob die Stadt sie bald verschlucken würde.

Von meiner Terrasse aus konnte ich das Wachsen eines riesigen Büroturmes beobachten. Er wurde von den Leuten "Spraydose" genannt und sollte das größte Einkaufszentrum Europas beherbergen. In seiner unfassbaren und absolut illegalen Höhe wirkte er wie eine abgestürzte Rakete im wilden Häusermeer. Die benachbarten Wohnhäuser sahen daneben aus wie Nussschalen, die auf hoher See an einem Dampfer zerschellen.

Legal – aber auf wackligem Boden


Das Phänomen Gecekondu (auf Deutsch: "Über Nacht gelandet") geht auf ein Gewohnheitsrecht aus osmanischer Zeit zurück und hat maßgeblich zum Aufstieg der neuen Mittelschicht in den Städten der Türkei beigetragen. Es darf nämlich ein Haus, das auf öffentlichem Grund errichtet wurde, nicht mehr abgerissen werden. Seit den 1950er-Jahren, einer Zeit massenhafter Zuwanderung und Industrialisierung, verwirklichten die Gecekondu-Siedlungen auf informelle Weise die Idee einer Gartenstadt: Es war ein selbst gebastelter Weg zum idealen Siedlungstypus der frühen Republik. Legal erbaut, aber auf wackeligem Boden stehend, sah die republikanische Führung darin einen ideologischen Immunitätsfaktor gegen ihren größten Albtraum: den zerstörerischen Kampf einer Zwei-Klassen-Gesellschaft nach dem Vorbild des europäischen 19. Jahrhunderts. Das Gecekondu entsprach dem Ideal des Staatsgründers Atatürk, der sich die türkische Nation als eine "klassen- und privilegienlose kohärente Masse" vorstellte.

In dem Buch "Self Service City: Istanbul" wird anhand zahlreicher Beispiele beschrieben, wie es den ländlichen Einwanderern/innen bis zum "unerklärten Bürgerkrieg" (1973-80) gelungen war, ihre Armut zielstrebig in einen relativen Wohlstand umzuwandeln. Die allerersten Gecekondus verwandelten sich mit der Zeit in stabile Gebäude, in denen Großfamilien zusammenlebten und einzelne Wohnungen vermieteten. Die Bewohner/innen dieser Siedlungen wurden zu einem wichtigen
politischen Faktor. In Wahlkampfzeiten sorgte die Regierung für kostenlose Infrastruktur oder wandelte den Besitz durch "Legalisierung" in Eigentum um. Die Entwicklungen waren in beiderseitigem Interesse. An Land gab es keinen Mangel: In der seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer weiter verwahrlosenden Altstadt bauten die Menschen zwischen alten Mauern. Außerhalb des Stadtkerns siedelten sie an den Hängen in der Nähe der zahlreichen neuen Fabriken.

Die neuen Landbesetzer

Am Beispiel der "Inbesitznahme" von Liegestühlen auf einem Kreuzfahrtdampfer durch zugestiegene Passagiere beschrieb der Soziologe Heinrich Popitz 2005 die Entwicklung einer Gesellschaft, in der jeder alles benutzen durfte, hin zu einer Aufspaltung in eine benachteiligte und eine privilegierte Gruppe, die Liegestühle mit Handtüchern markierte. Es kam zu einer Verknappung des Gebrauchsgutes Liegestuhl, die jedoch akzeptiert wurde. Der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau hatte das im 18. Jahrhundert noch ganz anders gesehen: "Der Erste, der ein Stück Land umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ, zu sagen: dies ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft."

Istanbul ist ein beeindruckendes Beispiel für diese beiden Aspekte der Aneignung öffentlichen Gutes: Dort kam es in den 1980er-Jahren zur vollständigen Kommerzialisierung der Bautätigkeiten – Bauherr/in und Bewohner/in waren nicht mehr identisch. Man verkaufte oder vermietete an ärmere Familien. Die Ware Land wurde knapp. Es entwickelte sich das "Yapsat"-System: Bauunternehmer/in und Bauherr/in bauen gemeinsam auf zuvor "angeeignetem" Land. Die Finanzierung erfolgt durch die künftigen Bewohner/innen. Ein System, das sich bis heute sogar bei Großprojekten wie Hochhäusern mit Luxusappartements gehalten hat. "Die alten Gecekondus waren dagegen vollständig außerhalb des Marktes gebaut – aus Altmaterialien, mit reinem Gebrauchswert", schreibt Heidi Wedel – und mit Gewinnbeteiligung für viele und damit einer Möglichkeit an der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben – zumindest für die Frühankömmlinge.

Wenn heute viele der später entstandenen Siedlungen unter der etwas fadenscheinigen Begründung der Erdbebensicherheit (oder wie kürzlich wegen Überschwemmungsgefahr) abgerissen werden sollen, dient dies vor allem der Bereitstellung von wertvollem Bauland für eine neue "privilegierte" Gruppe von finanzkräftigen internationalen Investoren. Die Methoden der neuen "Landbesetzer" ähneln dabei wieder einmal der Besetzung von "Liegenschaften" auf einem Luxusliner, auf dem eine neue Gruppe zugestiegen ist.


Orhan Esen/Stephan Lanz (Hg.); metroZones 4. Self Service City: Istanbul. (b_books Verlag 2005, 424 S., 16 €)




Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. (Mohr Siebeck 2004, 229 S., 29 €, gebraucht ab 14 €)





Andreas Eckl/Bernd Ludwig (Hg.) Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas. (Verlag C.H. Beck 2005, 264 S., 14,90 €)




Michel Serres: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen. Aus dem Französischen von Elisa Barth und Alexandre Plank. (Merve Verlag 2009, 9 €)



Antonia Herrscher, geboren 1973 in Hamburg, ist freie Autorin und lebt in Berlin.

Fotos: "Istanbul Gecekondu - Gulensu|Gulsuyu" / ©dysturb.net / Creative Commons Attribution ShareAlike 2.0 License (CC-BY-SA)

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