Samstag, 13. Oktober 2012

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Ausstellung „A House Full of Music“

Der Rest ist Stille

Produktive Destruktion: Die Ausstellung „A House Full of Music“ auf der Darmstädter Mathildenhöhe gilt den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Musik.von Antonia Herrscher



Ein Blick in die Ausstellung: Im Vordergrund Bernhard Leitners Installation „Soundcube“.  Bild:  Wolfgang Günzel/Mathildenhöhe

BERLIN taz | „If you celebrate it, it’s art, if you don’t, it isn’t“ steht in großen Lettern über dem Eingang des Darmstädter Hauptbahnhofs. Angeblich definierte so der amerikanische Komponist und Künstler John Cage, dessen 100. Geburtstag sich am 5. September jährt, wann es sich beim Öffnen einer Tür um einen künstlerischen Akt handle. „Cage 100 – Künstlerische Interventionen am Hauptbahnhof Darmstadt“ ist eines von vielen Projekten, die die Ausstellung „A House Full of Music. Strategien in Musik und Kunst“ begleiten.
Die Schlüsselfiguren der Ausstellung sind neben Cage, Nam June Paik, Joseph Beuys vor allem Erik Satie und Marcel Duchamp, die als Urväter eines künstlerischen Neuanfangs im 20. Jahrhundert gelten. Sie alle haben die inneren Zusammenhänge zwischen Musik und Kunst erforscht und das Kunstverständnis revolutioniert.

Satie komponierte 1893 „Vexations“, ein atonales Stück, das 840 mal wiederholt wurde und als erste interaktive Klanginstallation gilt. Zu den Vorläufern einer Konzeptmusik, wie sie erst in den 1960er Jahren entstehen sollte, zählt auch Marcel Duchamps zufallbasierte Komposition „Erratum Musical“ von 1913. Darin fehlt jede Angaben zu Dynamik oder Rhythmus. Einmal aufgeschrieben, so Duchamp, werde es jedoch als Musik wahrgenommen.
John Cage meinte dazu: „If you want to write music: study Duchamp.“ Dieser hatte das Konzept aus „Erratum Musical“ mit seinen Readymades später auf die bildende Kunst übertragen und erklärte schon die Auswahl eines Gegenstandes zum künstlerischen Akt: „Ein Kunstwerk existiert dann, wenn der Betrachter es angeschaut hat.“
Das Schweigen wird überbewertet
Der Ausstellung gelingt es elegant, die epochenübergreifenden Einflüsse aufzuzeigen. Die Rubrizierung in zwölf Strategien in der Kunst wirkt zunächst etwas didaktisch: Speichern, Collagieren, Würfeln, Möblieren oder Wiederholen. Sie stehen für Konzepte, nach denen bildende Künstler und Komponisten wie Laurie Anderson, Robert Filliou, Dieter Roth, Iannis Xenakis bis hin zu Frank Zappa arbeiteten. Zum Kunstverständnis Duchamps, den die Fluxus-Bewegung als geistigen Vater wählte, bezog Joseph Beuys 1964 Stellung, als er in der ZDF-Sendung „Drehscheibe„Das Schweigen von Duchamp wird überbewertet!“ mit Schokolade auf ein Plakat schrieb.

Doch bereits Arnold Schönberg befand: „Pausen können niemals schlecht klingen!“ Stille ist eines der großen Themen dieser Ausstellung. So stammt eines der zahlreich präsentierten Notenblätter von Erwin Schulhoff. Die „Fünf Pittoresken für Klavier“ (1919) machen das Schweigen der Instrumente zum Thema. Die dadaistische Partitur besteht lediglich aus Pausen-Notationen. In die Partitur für die legendäre Komposition „4:33“ schrieb John Cage nur „tacet“ und formulierte so – inspiriert von den White Paintings Rauschenbergs – einen zeitlich festgelegten Moment der Stille.
Für Nam June Paik, der Karlheinz Stockhausen und John Cage 1958 bei den Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt kennengelernt hatte, wurde bald das Zertrümmern des Instruments zum Credo: „Das Klavier ist ein Tabu. Es muss zerstört werden.“ In der Ausstellung „Exhibition of Music – Electronic Television“ präsentierte er 1963 präparierte Klangobjekte. Joseph Beuys, damals ebenfalls unter den Gästen, nahm Paiks Anspruch, die Besucher einzubeziehen, besonders ernst und zerstörte spontan das einzige nicht präparierte Klavier, was wiederum Teile der Kunstszene nachhaltig verstimmte.
Informationsüberdosis
Seitdem wurde in der Kunst viel zerstört: Jimi Hendrix setzte 1967 seine E-Gitarre in Flammen, bevor er sie unter jaulenden Rückkopplungen in Stücke schlug. Ein rätselhaftes Notenbild der Zerstörung lieferte 1980 der Musiker Idris Khan mit „Struggling to Hear … After Ludwig van Beethoven Sonatas“. Die fotografische Überlagerung von 32 Partituren hinterlässt als schwarze Balken das Rauschen einer Informationsüberdosis.
Zu den bekanntesten Vertretern einer Klangpoesie der Zerstörung gehört die Band Einstürzende Neubauten, um die Kunstfiguren Blixa Bargeld und N. U. Unruh im Berlin der 80er Jahre gebildet. Eines der letzten Alben hieß dann ausgerechnet „Silence is Sexy“, dennoch blieben sie Symbol für die produktive Destruktion musikindustrieller Standards. Heute produzieren sie internetbasierte Unterstützeralben. Ein Verfahren zeitgenössischer Kunstproduktion mithilfe moderner Medien, die in der Ausstellung nur durch Kutimans YouTube-basierte Splitscreen-Montage „ThruYou – The Mother of All Funk Chords“ (2009) vertreten ist.

Rund 350 Werke stehen exemplarisch für 100 Jahre Wechselbeziehungen, die ein neues Kunstverständnis beförderten, das angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um Kunst und Commons verblüffend aktuell geblieben ist. Zuletzt stimmt den Besucher Johannes Kreidlers Video „Charts Music – Songsmith fed with Stock Charts“ (2009) noch einmal froh. Unter Verwendung der Microsoft Komponiersoftware „Songsmith“ entstand ein tragikomischer Billion-Dollar-Song zur Wirtschaftskrise. Entlang abstürzender Börsenkurse, Wachstumsraten von Pornoindustrie und steigenden Kriegsopferzahlen trällert ein rhythmisch unterlegter Orgelsound. Wunderbar.

Noch bis zum 9. September im Museum Künstlerkolonie Darmstadt. Katalog Hatje Cantz, 45 Euro

Mittwoch, 26. Oktober 2011

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Wem gehört das Land?

Bücher über Eigentum und Häuserbau in Istanbul 

fluter.de 9.10.2009 | Antonia Herrscher |

Vor einiger Zeit bewohnte ich in Istanbul ein WG-Zimmer im relativ zentralen Bezirk Sisly. Die mehrheitlich von gehobener Mittelschicht bewohnten Häuser schienen aus den neunziger Jahren zu stammen. Dennoch konnte man an der Gegend alle Phasen des rasanten Wachstums einer Stadt ablesen, die seit den 1950er-Jahren von weniger als einer Million auf heute etwa vierzehn Millionen Einwohner/innen angewachsen ist. Vereinzelt klebten noch winzige bäuerlich wirkende Häuschen (Gecekondus) neben sechs bis zehngeschossigen Apartmenthäusern. Als ob die Stadt sie bald verschlucken würde.

Von meiner Terrasse aus konnte ich das Wachsen eines riesigen Büroturmes beobachten. Er wurde von den Leuten "Spraydose" genannt und sollte das größte Einkaufszentrum Europas beherbergen. In seiner unfassbaren und absolut illegalen Höhe wirkte er wie eine abgestürzte Rakete im wilden Häusermeer. Die benachbarten Wohnhäuser sahen daneben aus wie Nussschalen, die auf hoher See an einem Dampfer zerschellen.

Legal – aber auf wackligem Boden


Das Phänomen Gecekondu (auf Deutsch: "Über Nacht gelandet") geht auf ein Gewohnheitsrecht aus osmanischer Zeit zurück und hat maßgeblich zum Aufstieg der neuen Mittelschicht in den Städten der Türkei beigetragen. Es darf nämlich ein Haus, das auf öffentlichem Grund errichtet wurde, nicht mehr abgerissen werden. Seit den 1950er-Jahren, einer Zeit massenhafter Zuwanderung und Industrialisierung, verwirklichten die Gecekondu-Siedlungen auf informelle Weise die Idee einer Gartenstadt: Es war ein selbst gebastelter Weg zum idealen Siedlungstypus der frühen Republik. Legal erbaut, aber auf wackeligem Boden stehend, sah die republikanische Führung darin einen ideologischen Immunitätsfaktor gegen ihren größten Albtraum: den zerstörerischen Kampf einer Zwei-Klassen-Gesellschaft nach dem Vorbild des europäischen 19. Jahrhunderts. Das Gecekondu entsprach dem Ideal des Staatsgründers Atatürk, der sich die türkische Nation als eine "klassen- und privilegienlose kohärente Masse" vorstellte.

In dem Buch "Self Service City: Istanbul" wird anhand zahlreicher Beispiele beschrieben, wie es den ländlichen Einwanderern/innen bis zum "unerklärten Bürgerkrieg" (1973-80) gelungen war, ihre Armut zielstrebig in einen relativen Wohlstand umzuwandeln. Die allerersten Gecekondus verwandelten sich mit der Zeit in stabile Gebäude, in denen Großfamilien zusammenlebten und einzelne Wohnungen vermieteten. Die Bewohner/innen dieser Siedlungen wurden zu einem wichtigen
politischen Faktor. In Wahlkampfzeiten sorgte die Regierung für kostenlose Infrastruktur oder wandelte den Besitz durch "Legalisierung" in Eigentum um. Die Entwicklungen waren in beiderseitigem Interesse. An Land gab es keinen Mangel: In der seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer weiter verwahrlosenden Altstadt bauten die Menschen zwischen alten Mauern. Außerhalb des Stadtkerns siedelten sie an den Hängen in der Nähe der zahlreichen neuen Fabriken.

Die neuen Landbesetzer

Am Beispiel der "Inbesitznahme" von Liegestühlen auf einem Kreuzfahrtdampfer durch zugestiegene Passagiere beschrieb der Soziologe Heinrich Popitz 2005 die Entwicklung einer Gesellschaft, in der jeder alles benutzen durfte, hin zu einer Aufspaltung in eine benachteiligte und eine privilegierte Gruppe, die Liegestühle mit Handtüchern markierte. Es kam zu einer Verknappung des Gebrauchsgutes Liegestuhl, die jedoch akzeptiert wurde. Der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau hatte das im 18. Jahrhundert noch ganz anders gesehen: "Der Erste, der ein Stück Land umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ, zu sagen: dies ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft."

Istanbul ist ein beeindruckendes Beispiel für diese beiden Aspekte der Aneignung öffentlichen Gutes: Dort kam es in den 1980er-Jahren zur vollständigen Kommerzialisierung der Bautätigkeiten – Bauherr/in und Bewohner/in waren nicht mehr identisch. Man verkaufte oder vermietete an ärmere Familien. Die Ware Land wurde knapp. Es entwickelte sich das "Yapsat"-System: Bauunternehmer/in und Bauherr/in bauen gemeinsam auf zuvor "angeeignetem" Land. Die Finanzierung erfolgt durch die künftigen Bewohner/innen. Ein System, das sich bis heute sogar bei Großprojekten wie Hochhäusern mit Luxusappartements gehalten hat. "Die alten Gecekondus waren dagegen vollständig außerhalb des Marktes gebaut – aus Altmaterialien, mit reinem Gebrauchswert", schreibt Heidi Wedel – und mit Gewinnbeteiligung für viele und damit einer Möglichkeit an der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben – zumindest für die Frühankömmlinge.

Wenn heute viele der später entstandenen Siedlungen unter der etwas fadenscheinigen Begründung der Erdbebensicherheit (oder wie kürzlich wegen Überschwemmungsgefahr) abgerissen werden sollen, dient dies vor allem der Bereitstellung von wertvollem Bauland für eine neue "privilegierte" Gruppe von finanzkräftigen internationalen Investoren. Die Methoden der neuen "Landbesetzer" ähneln dabei wieder einmal der Besetzung von "Liegenschaften" auf einem Luxusliner, auf dem eine neue Gruppe zugestiegen ist.


Orhan Esen/Stephan Lanz (Hg.); metroZones 4. Self Service City: Istanbul. (b_books Verlag 2005, 424 S., 16 €)




Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. (Mohr Siebeck 2004, 229 S., 29 €, gebraucht ab 14 €)





Andreas Eckl/Bernd Ludwig (Hg.) Was ist Eigentum? Philosophische Positionen von Platon bis Habermas. (Verlag C.H. Beck 2005, 264 S., 14,90 €)




Michel Serres: Das eigentliche Übel. Verschmutzen, um sich anzueignen. Aus dem Französischen von Elisa Barth und Alexandre Plank. (Merve Verlag 2009, 9 €)



Antonia Herrscher, geboren 1973 in Hamburg, ist freie Autorin und lebt in Berlin.

Fotos: "Istanbul Gecekondu - Gulensu|Gulsuyu" / ©dysturb.net / Creative Commons Attribution ShareAlike 2.0 License (CC-BY-SA)

Montag, 24. Oktober 2011

STALINGRAD

Königsberg

taz vom 01.07.2011

Mein Zahnarzt hat die Frage nach den früheren Operationen aus dem Anamnese-Bogen gestrichen. Die meisten Patienten erzählen dann von den Gallensteinen des Großvaters - sind aber nicht doof: Auf den Hinweis, dass es um ihre eigenen Operationen ginge, kontern sie dann mit der Familien-Anamnese, die ja heutzutage immer wichtiger wird. Stalingrad, entfährt es ihm dann stets. Ich weiß! Stalingrad!

An Stalingrad musste ich heute Abend irgendwie auch denken. In der Belle Etage des Wirtshauses Max & Moritz feierte eine französische Herrenfußballmannschaft. Schon seit Stunden wehte ein beängstigendes Grölen über die Straße zu uns ins Café. In den hell erleuchteten Räumen konnte man zwei Dutzend Stiernacken beobachten, die begeistert auf Tischen rumsprangen und Begattungsbewegungen aus der Hüfte simulierten, wie Ronaldo damals. Später fragte uns ein Typ nach Sprühsahne. Sie hätten gegenüber eine Stripperin und wollten sie nun ablecken, erzählte er stolz. Leider hatten wir nur noch vegane Sahne. Dann gab es Geschrei vorm Haus.

Auf dem Heimweg machte ich noch einen kurzen Abstecher in die Schillingbar. Der Betrunkene am Tresen fragte plötzlich, wieso ich es nicht mal mit Männern versuche. Obwohl, meine Frisur fand er gut. Auf dem Klo dann brüllte einer in sein Telefon: Kannste mir 500 Euro leihen? Ich muss meinen Lifestyle ändern. Ich überlegte, ob mir 500 Euro helfen könnten.

Zu Hause im Hof saß Yaser mit Hausmeister Rainer und aß. Ich setzte mich dazu, Rainer fragte mich, wieso ich nicht bei einer anderen Zeitung arbeiten könne, und ging. Yaser holte einen Löffel für mich, sein Onkel hatte sein Lieblingsgericht gekocht. Ein libanesisches Gericht?, fragte ich schmatzend. Nein, Königsberger Klopse!, sagte er mit großen Augen. Und? Sind die gut? Unglaublich gut waren die.

ANTONIA HERRSCHER

Der Platz in der Wanne

taz vom 15.08.2007
Arschbomben mit Migrationshintergrund: Ob im Kreuzberger Prinzenbad oder an den Stränden von Istanbul, schuld sind immer die Zugezogenen, wenn die Ruhe beim Baden flöten geht

VON ANTONIA HERRSCHER

Die Zeitungen berichteten letzte Woche von Rüpeleien im Prinzenbad. Im Berliner Kurier war von "Sex-Anmachen übelster Sorte" und schwerer Randale die Rede: "Den Ärger haben wir mit den Türken und Arabern", wurde der Badebetriebsleiter zitiert. Einen Tag später hieß es, die Politiker fordern, das Bad trockenzulegen, um nach der Idee des Innen- und Sicherheitsexperten der CDU Kurt Wansner "bei den Machos einen Denkprozess anzuregen". Und der Kreuzberger CDU-Chef Wolfgang Wehrl sagt: "Das Maß ist voll! Frauen trauen sich da kaum noch hin. Im Tagesspiegel nimmt der Autor des Buches "Prinzenbad - 50 Jahre Eintauchen in Kreuzberg" Matthias Oloew seine rosa Brille ab: "Das Bad droht zu entgleiten", die Stammschwimmer würden aufgrund der Rüpeleien von "Jugendlichen mit Migrationshintergrund" zum schicken Badeschiff nach Treptow abwandern.

An einem Nachmittag darauf sitze ich mit meinem Istanbuler Freund Doruk am Beckenrand, und wir wundern uns. Im Bad befinden sich mehr Journalisten als Badegäste und zusätzlich Polizisten in Badehose, "um sich ein Bild zu machen". In der schmeichelhaften Nachmittagssonne wird gerade der Badeleiter fotografiert. Dem Schwimmmeister an unserem Becken folgt eine Jungjournalistin mit Riesensonnenbrille, während sich ihre Kollegin mit einem Monsterobjektiv auf die Suche nach Arschbomben mit Migrationshintergrund macht.

Mittlerweile hat sich das Bad mit den "Spätschwimmern" gefüllt. Hier, wo "junge Frauen keinen Schritt tun können, ohne dumm angequatscht zu werden" (Tagesspiegel), bevölkern nun vor allem Oben-ohne-Sonnenanbeterinnen die Terrasse am Kaltbecken. Die Jugendlichen nehmen davon wenig Notiz. Nur hin und wieder springt der Bademeister für die Journalistin auf, um etwa einen Jungen zu schelten, der mit seiner klatschnassen Badehose über die anderen Gäste hüpft.

Ich versuche mich krampfhaft zu erinnern, ob ich hier jemals eine "Vollverschleierte" habe baden sehen, was hier angeblich an der Tagesordnung ist, kann mich aber nicht erinnern. Neben uns versammeln sich einige arabeske Zwölfjährige und tropfen auf meine Tasche.

Ich erinnere mich, dass im Sommer 2004 die Kopftuchträgerinnen und das Grillen im Park, ganz besonders aber bekopftuchtes Grillen im Park das Sommerloch in Berlin füllten. Als ich im Jahr darauf nach Istanbul kam, bestimmten das Kopftuchverbot und das Grillen im Park auch dort die Schlagzeilen. Das alte Bürgertum und die neue Mittelschicht der Stadt sahen sich einer Flut von Zuzüglern bäuerlicher Herkunft gegenüber, die immer selbstbewusster die öffentlichen Räume besetzten. Als im Sommer 2005 nach einer Unterbrechung von mehreren Jahrzehnten (aus Umweltgründen) die Strände Istanbuls wieder eröffnet wurden, brachte dies ein Stadtverwalter folgendermaßen auf den Punkt: "Das Volk erstürmte die Strände, die Bürger konnten nicht baden." Auf der einen Seite die Bürger, auf der anderen das lästige Volk.

Wann immer in der deutschen Presse von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten berichtet wird, darf der Hinweis auf die Herkunft nicht fehlen. Politisch korrekt wird dann von Migrationshintergrund gesprochen. Laut dem Stadtforscher Tom Hayden hat sich in den USA bereits der Bergriff "Kriminelle" als Codewort für Rasse durchgesetzt. "Das Rassenproblem, das einst viele Sympathien der Mittelschicht erhielt, ist nun rhetorisch in ein Kriminalitätsproblem verwandelt worden."

Kreuzberg ist ein Migrationsbezirk. Das ist er seit seiner Gründung in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Stadt aufgrund des Zuzugs dringend benötigter Arbeitskräfte schnell anwuchs. Armut, häusliche Enge und ein geringes Bildungsniveau haben hier Tradition. Wenn die Politiker auf die ausländische Herkunft sozialer Probleme hinweisen, ist dies ein Spaltungsversuch. Da ist das Volk ohne (Frühschwimmer-)Kultur, und hier sind wir Bürger und können nicht baden. Die Presse, die sich als Sprachrohr der Mittelschicht versteht, schreibt diesen Äußerungen hinterher. Unwahrheiten werden kritiklos zitiert. Die sozialen Probleme interessieren nur wenig.

Gleichzeitig ziehen immer mehr "Besserverdienende" in den Bezirk und tragen zu einer Umstrukturierung des öffentlichen Raumes bei, wie etwa am Kreuzberger Oranienplatz. Auf der Webseite des überengagierten Bürgervereins Luisenstadt e. V. ist zu lesen, dass man sich wünscht, wieder deutsche Rentner auf dem Platz anzutreffen. Die finden die sanierte Variante übrigens wirklich prima. Deutsche Rentner mit meist türkischem Migrationshintergrund bevölkern zahlreich die Bänke entlang der Hauptachse. Etwas schattiger mögen es die deutschstämmigen Biertrinker unter den Bäumen.

Das großzügig gestaltete Prinzenbad ist aus heutiger stadtplanerischer Sicht purer Luxus. Zudem zahlt ein Großteil der Gäste nur das Sozialticket. Die Kosten für den Betrieb kommen nicht ausreichend wieder rein. Als die Anlage in den 50er-Jahren geplant wurde, sollte sie ganz praktische Probleme lösen: 80 Prozent der Kreuzberger Bevölkerung lebte in beengten Verhältnissen ohne eigenes Bad. Bis 1975 unterstanden die Bäderbetriebe deshalb als Einrichtungen der Volkshygiene dem Gesundheitsamt, danach der Sportverwaltung.

Heute dominieren ökonomische Probleme. Viele Familien sind von Armut bedroht. "Bei den Kindern arabischer Herkunft ist es am schlimmsten", erklärt mir Hadi (Migrationshintergrund: iranisch), ein Stammschwimmer des Prinzenbades. "Zu Hause hören sie ständig die Eltern von Abschiebung reden, dann kommen sie hierher und können sich nicht einmal ein Eis leisten. Das ist frustrierend. In den Männerduschen gibt es oft Ärger. Viele haben keine Ausbildung, keine Perspektive. Nun will man sie auch hier abschieben. Aber das Problem ist damit nicht gelöst."

Hadi hat noch eine Vermutung, worum sich der Streit über das Prinzenbad auch dreht. "Manchmal glaube ich, die wollen die große Wiese abteilen und dort vielleicht einen Mini-Golf-Platz einrichten. Deshalb wird jetzt so ein Wind gemacht."

Tatsächlich wird derzeit mit den Berliner Bäderbetrieben ein Pilotprojekt realisiert, das 2008 offiziell starten soll: Schlafboxen für Eventtouristen. Fünf wurden bereits produziert. "Wenn alles klappt, sollen die Boxen noch in diesem Jahr aufgestellt werden. So der Bäderchef Klaus Lipinsky. Die ersten "Public Pool Lounges" will man im Prinzenbad aufstellen. "Das ist ideal, denn es ist das einzige Freibad mit U-Bahn-Anschluss und hat Kultstatus", freut sich Michael Lehner, einer der Konstrukteure der Boxen. Er versucht nun eine Genehmigung dafür zu bekommen, was aufgrund des Flächennutzungsplans nicht ganz einfach ist. Die nächste Konkurrenz um Raum ist damit vorprogrammiert.

BERLINER ÖKONOMIE

Kap der Angst - Angstangst inklusive

"Angst ist keine Weltanschauung" (Kurt von Hammerstein)

In der Bauleitung für den Lehrter Bahnhof, wo ich vor einigen Jahren als studentische Hilfskraft arbeitete, sagte mir meine Vorgesetzte eines Tages, sie traue sich nicht mehr nach Hause, weil sie Angst habe, ihr Kollege, mit dem sie für die Zeit des Projekts in Berlin eine Wohnung teilen musste, werde eines Nachts mit einem Maschinengewehr in ihr Zimmer kommen. Ich fand das etwas hysterisch. Am folgenden Tag jedoch trafen wir den Kollegen auf dem Weg zum Mittagessen, und als sein Blick mich traf, wusste ich, was sie meinte - Todesangst.

Die Stimmung auf der Baustelle wurde immer schlimmer. Ein Bauleiter und ein Ingenieur nach dem anderen flogen raus oder wurden mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Herren Ingenieure von Bahn und Arge buckelten nach oben und traten nach unten weiter. Kollegen verkehrten nur noch schriftlich miteinander. Der Druck stieg an. Kurz darauf wurde der Berg an Arbeit immer größer, meine Chefin verließ die Firma, und ich hatte jeden Morgen Angst, dass ich am Tag zuvor Tausende von Euros durch einen Fehler verbrannt haben könnte - Versagensangst.

Ich ging immer öfter auf die Baustelle und immer seltener an die Uni. Mich beschlich die Angst, dass ich auch dort den Anschluss verlieren würde. Zuletzt blieb ich ganz weg, weil ich befürchtete, dort nicht mehr willkommen zu sein - Sozialangst.

Man entließ die Sekretärin, sie schwieg dazu, weil sie Angst hatte, sie käme dann auf eine schwarze Liste, und ich auch, aus Angst mit zu fliegen. Ein ehemals langzeitarbeitsloser Techniker wurde mir zur Seite gestellt und aus Angst, dass er vor mir wieder gehen müsste, verbreitete er, ich würde dauernd Fehler machen. Ich wurde krank - und bekam rückwirkend die Kündigung. Danach wurde mein mobbender Kollege krank und flog ebenfalls.

Seit meinem Umzug nach Berlin vor einigen Jahren hat sich etwas verändert in meinem Leben. Eigentlich als Tal der Seligen verspottet, entpuppte sich diese Stadt als eher anstrengend. Meinen ersten Job kündigte ich, weil die Geschäftsführung eines jungen Unternehmens meinen Kontakt zu meinem vorherigen Chef plötzlich für gefährlich hielt. Man bezichtigte ihn der Verbreitung eines Gerüchts hinsichtlich der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens und befürchtete, in eine Insolvenzfalle zu geraten. Ich kündigte, weil ich diese Atmosphäre nicht mehr ertrug.

Mein alter Chef lachte damals darüber: "Ach, Antonia. Die haben ständig im Hintergrund Bilanzen laufen aus Angst, sie könnten mal in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Selbst wenn sie 'ne Million auf dem Konto hätten, würden sie es nicht glauben, weil ihnen die Bilanz etwas anderes sagt" - Angst vor Kontrollverlust.

An der Uni machte ich plötzlich die Erfahrung, dass Leute nicht über ihre Ideen redeten, weil sie Angst hatten, man könne sie ihnen klauen - Verlustangst. Obwohl mein damaliger Freund Beamter war und gut verdiente, pflanzte sich eine ständige Angst in meine Brust. Dass ich die Miete nicht bezahlen kann, vor sozialem Absturz, vor Professoren, die mir ansahen, was ich für ein ängstlicher Hase war. Ich hatte zunehmend Angst, verlassen zu werden, und Angst davor, dass ich meine Ängste nicht mehr in den Griff bekäme - Angstangst.

An der Uni wurden in dieser Zeit "neue Seiten aufgezogen". Man befürchtete, im Rahmen des Hochschulrankings ins Hintertreffen zu gelangen. "Wir müssen uns dem internationalen Vergleich stellen", sagte man mir in der Studienberatung. "Die Studienzeiten sind dabei ein wichtiger Faktor. Unsere Studenten müssen jetzt einfach schneller fertig werden." Im selben Jahr verließen einige Professoren den Fachbereich und wurden nicht ersetzt, was zur Folge hatte, dass nicht mehr genug Projekte angeboten werden konnten. Mir wurde aber versichert, dass irgendjemand sich meiner annehmen müsse, wenn ich mit einem eigenen Projekt ankäme. Die Vorstellung, ganz allein zu Hause in einem einsamen Projekt zu ertrinken und in regelmäßigen Abständen lustlos von einer Lehrkraft angehört zu werden, die aufgrund meiner Beschwerde zur Betreuung verpflichtet wurde, war jedoch nicht angenehm.

Eines Tages sollte es eine Studienfahrt zu einer Baumesse in München geben: scheinrelevant! Eintritt, Fahrt, Essen, alles musste selbst bezahlt werden. Ich hatte nicht einmal Geld für meine Miete, jedoch Angst, mich zu drücken. Am Abend, an dem ich mit meiner Studienfreundin auf die Abreise wartend zu Hause rumsaß, überlegten wir uns, wie wir die Reise doch noch vermeiden könnten. Da zog "Kyrill" auf. "Kyrill", der Wunderbare! Es kam zu einem Verkehrschaos, und wir riefen wieder und wieder bei der Assistentin des Lehrstuhls an, um ihr unsere Bedenken vorzutragen. Endlich wurde die Reise abgeblasen - die Angst vor Naturkatastrophen nimmt ja auch zu.

Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass "Kyrill" nur gelangweilt gepustet und am "Kap Mehdorn" einen über acht Meter langen Träger von der Fassade des Lehrter Bahnhofs geweht hatte. Man diskutierte über Pfusch und Schuld. Mir wurde warm ums Herz. ANTONIA HERRSCHER

taz vom 22.12.2007

Farbfilm vergessen ...

Hiddensee - Insel sein

"In den Zeiten des Verrats sind die Landschaften schön" (Heiner Müller). Die Insel Hiddensee ist bekannt für ihre Streitkultur: Thomas Mann und Gerhard Hauptmann, Nina Hagen und Mischa VON ANTONIA HERRSCHER UND HELMUT HÖGE
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"Du hast den Farbfilm vergessen ..." 
Kühe auf Hiddensee © Antonia 2011
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"Mein Fahrrad ist viel schwerer als deins!", sagt eine junge Frau neben uns zu ihrem Mann, als wir den Hafen von Kloster auf Hiddensee erreichen. Zahlreiche Pärchen machen sich gerade daran, dass Knäuel aus mitgebrachten Drahteseln zu entwirren. "Das haben wir dir doch nur zum Einstieg gekauft, Schatz. Wenn sich herausstellt, dass es dir wirklich Spaß macht, dann kaufen wir ein besseres für dich. Es muss ja nicht gleich ein Rolls-Royce sein ..." Sie versucht das Rad über die Gangway zu heben. "Dann hilf mir wenigstens! Verdammt ..."
Die malerische Insel nahe Rügen wird jedes Jahr von 100.000 Urlaubern besucht, davon sind 80 Prozent Paare mit und ohne Kinder. Jetzt im Herbst dominieren Individualreisende. Wie die Kurverwaltung ermittelte, wird der Urlaub auf Hiddensee meist mit dem Ehe- oder Lebenspartner verbracht. Alter, 35 bis 55, mittleres Einkommen, Hauptmotive für den Urlaub sind Ruhe und Natur, "Autofreiheit", der weite Himmel, die von Farben umspülte Insel und ein ganz besonderes Licht. Da bleiben Spannungen nicht aus.
Der spektakuläre Sonnenuntergang inspiriert uns zu einem ersten Erfrischungsgetränk in der Hafenbar, die wir sogleich am Anleger entdeckt haben. "Können wir zwei Martini bekommen?" "Martina? Ham wir nicht." "Dann zwei Bier bitte." "Wir ham schon zu." Das fängt ja gut an!
Auf der Kutschfahrt ins Hotel streiten wir uns bereits über die Schlafgewohnheiten von Kranichen und wer daran schuld ist, dass das Handy zuhause liegen blieb. Die Insel Hiddensee ist bekannt für ihre gehobene Streitkultur. Gerhart Hauptmann lud Thomas Mann einst ein, den Sommer gemeinsam mit ihm auf seiner Lieblingsinsel zu verbringen. Schon nach einer Woche reisten die Manns verärgert wieder ab. Gerhart Hauptmann hatte Thomas Mann all zu deutlich zu verstehen gegeben, dass es seine Insel war. Thomas Mann rächte sich später, indem er Hauptmanns Unfähigkeit frei zu sprechen, in einem seiner Romane verwurstete.
Nina Hagen stritt sich 1984 auf Hiddensee lauthals mit einem Micha: "Du hast den Farbfilm vergessen!" Das Lied kann man bis heute als Hiddenseer Sommerhit bezeichnen. Zuletzt, 2003, recherchierte eine Zeit-Journalistin hinter dem ominösen Micha her. Sie machte die Romantik der Insel dafür verantwortlich, "dass Nina wegen des läppischen Farbfilms einen Streit mit ihm vom Zaun brach: 'So böse stampfte mein nackter Fuß im Sand / und schlug ich von meiner Schulter deine Hand'." Wer war Micha und wo steckt er heute? Der Kurdirektor, der Bürgermeister und die ganze Insel hielten jedoch dicht. Ihre Suche verlief also im Sand. Stattdessen geriet sie mit dem Kurdirektor und ihrem Fotografen aneinander, darüber ob man einen Streit ins Bild setzen kann ...
"Die Möwen greifen nur den an, der ihr Nest gefährdet`". Das ist das Motiv eines auf Hiddensee spielenden Inselkrimis von Claus Wiesner, den das DDR-Fernsehen verfilmte. Ein geschasster Wissenschaftler prügelt sich im Suff mit dem Liebhaber seiner Frau und stürzt dabei von der Steilküste. Über 30 Prozent aller Scheidungen werden nach dem Urlaub eingereicht, sagt die Statistik. Hiddensee war und ist dafür als begehrter und inzwischen nicht mehr ganz billiger "Hide-Away" besonders prädestiniert. Harmloser als im "Möwennest" ging die Ehe der Ethnologin Jeannina Lilienthal auseinander, nachdem sie 1991 Aljoscha Rompe, den Sänger der ersten DDR-Punkgruppe "Feeling B" auf Hiddensee getroffen hatte: "Ich war eine Woche allein auf der Insel und er ebenso. Wir trafen uns jeden Tag zufällig nachmittags oder abends … Mein Ehemann verließ im September meine Wohnung in Berlin, er erkannte die Situation sehr schnell." Schon bei der Verfilmung des Lebens von Aljoscha Rompe und seiner Band war es 1985 auf Hiddensee zu einem Zerwürfnis zwischen dem Regisseur Dieter Schumann und seinem Co-Autor Jochen Wisotzki gekommen. Letzterem war das Doku-Projekt "Flüstern & Schreien" nicht politisch genug.
Wir beschließen am Abend ins Zeltkino nach Vitten zu gehen. Obwohl das Programm keine Abwechslung verspricht: Es läuft dort der neue Film von Julie Delpy: "2 Tage Paris". Er handelt vom hektischen New Yorker Leben eines Amerikaners und einer Französin, das ihrer zweijährigen Beziehung zugesetzt hat. Sie beschließen, "ein Urlaub soll es richten, der endet aber als Beziehungsdesaster". Nach dem Kinoerlebnis haben wir Hunger. Im Godewind ist noch was los. Wir bestellen Nudeln. Jörg Kachelmann, der auf Hiddensee eine Wetterstation leitete, behauptete kürzlich, dass man auf der Insel überall gut essen könne. Noch kauend beschließen wir, ihn dafür zur Rede zu stellen.
Am nächsten Morgen machen wir bei strahlendem Sonnenschein ein paar schöne Schwarz/Weiß-Bilder von der beeindruckenden Dünenheide im Süden. Dabei kommen wir vom Weg ab und erschrecken, als plötzlich kein Nationalparkwächter, aber ein Muflon aus dem Gebüsch springt. Beim Lesen an einer windgeschützten Stelle im Sand dann die zufällige Entdeckung im neuen Berlin-Roman "Teil der Lösung" von Ulrich Peltzer: "Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal am Meer war, es könnte tatsächlich Carolin gewesen sein, eine halbe verregnete Woche auf Hiddensee, die das Ende ihrer Beziehung nur beschleunigt hatte ..." Auffallend viele verlassene Autoren neigen dazu, das Scheitern von Beziehungen auf falsches Urlaubswetter zurückzuführen. Während unseres Strandspaziergangs zurück nach Kloster - weil es die Tage zuvor anständig gestürmt hat, suchen wir unterwegs nach Bernstein und fotografieren Reliefs im Sand - stoßen wir nahe am Wasser auf eine einsame Person, die mit einem grossen Mikrophon in der Hand vor zwei Kameras steht und über das Wetter redet. Der Mann, der nicht Jörg Kachelmann ist, nimmt live eine Vorhersage für RBB auf. Die Wetterlage bleibt angeblich stabil.
Im Restaurent unseres Hotels kommen wir neben einem Ehepaar aus Potsdam zu sitzen. Die etwas zu dick panierte Scholle bringt uns ins Gespräch. "Ich kenn die Insel schon seit 30 Jahren", behauptet der Mann. Die Frau schweigt. Der Mann schwelgt in der Schilderung verschwiegener Plätze und den schönen Zeiten von damals. Wir ahnen, dass sie es leid sein könnte, von ihrem Mann von einer Stätte seines früheren Wirkens zur nächsten geschleppt zu werden und eigentlich sowieso lieber in den Bergen Urlaub machen würde. Abwechselnd bestellen wir Sanddorngeist und Bier. "Wir haben heute die Große Kranichtour auf der MS Schaprode mitgemacht", erzählt der Mann. "Ein tolles Erlebnis - mehr als 10.000 Vögel, die jeden Abend am Großen Jasmunder Bodden ihren Schlafplatz einnehmen. Das können wir nur empfehlen. Ferngläser kann man an Bord leihen."
"Also, ich fand’s scheiße ...", meldet sich die Frau leise zu Wort und alles verstummt. Dann etwas beherzter: "Über 4 Stunden waren wir unterwegs, um 20 Minuten irgendwelche Vögel in der Ferne zu beobachten. So weit weg, dass es von mir aus auch Enten oder Kamele hätten sein können. Es war saukalt. Den ganzen Nachmittag hab ich einen Kaffee nach dem anderen getrunken und zu Essen gab es an Bord nur schlechte Currywurst mit Kartoffelsalat."
Der erfahrene Wirt rettet die Stimmung mit einer Runde Goldkrone aufs Haus. Wir wünschen uns etwas von "Feeling B". Der Wirt prüft kurz die Lage im Raum und meint selbstbewusst: "OK, keiner mehr da, den das stören könnte ..." Womit der Chef nicht gemeint sein kann, der sich am Tresen gerade nächtlicher Gemeindepolitik widmet. Die jungen Mädchen am Nachbartisch beginnen zu schunkeln, als der Wirt danach noch Karat und Gundermann auflegt. Fast kommt es einem so vor, als ob hier den ganzen Tag eine Art Muppet-Show für Wessis gegeben wird - aber nur so lange, bis der letzte den Raum verlassen hat. Denn plötzlich trinken wir im guten alten Osten ...
Wir flüchten mit unseren Getränken an den Tresen, um dem Mann allerhand Fragen über Muflons, Kraniche und Ost-Bands zu stellen. Über das Muflon erfahren wir, dass es normalerweise natürlich auch lieber in den Bergen wäre und über den Kranich, dass dieser für Glück und ewiges Leben stehe. Weil sie als Paar ein Leben lang zusammen bleiben, seien diese Vögel auch ein Symbol für Treue. Vielleicht wirbt die Kurverwaltung deswegen so für die Kranichtour - als eine Art Gegengift zum allgemeinen Reizklima der Insel? Eine weitere Anpassung an westliche Bedürfnisse: Speziell für Allergiker und Menschen, die an Asthma leiden, wird auf Hiddensee ein Fastenkurs angeboten. Nach dem 2. Weltkrieg lag die Zahl der allergiekranken Menschen in Ost wie West bei etwa 7 Prozent. Während sich die Rate im Westen in den 50er Jahren schon verdoppelt hatte, nahm diese im Osten kaum zu. Seit der Wende haben die Neuen Bundesländer nun aber doch nachgezogen. In Westdeutschland spricht man nach Auskunft des Deutschen Ärztekongresses von 43, im Ostteil der Republik von etwa 30 Prozent. Man ist also der "Inneren Einheit" auf den Fersen.
Uns überfallen auch auf Hiddensee noch gelegentlich Niesanfälle, was wir jedoch nicht auf die salzige Seeluft, sondern auf unsere eigene leichte Gereiztheit zurückführen. Am nächsten Tag entscheiden wir uns für einen weiteren langen Spaziergang - diesmal ans nördliche Ende von Hiddensee. Der Tag ist fast windstill und in der Sonne wird es uns bald sehr warm. Die Luft erfrischt unseren Geist, wenngleich wir an der Spitze der Insel noch nicht in der Lage sind, die Playlist des gestrigen Abends zu rekonstruieren. Dort besteigen wir den Dornbusch, ein Geschiebemergelkern, von dem aus man einen weiten Blick über die Insel hat. Oben an der Gaststätte Klausner stehen drei winzige weiße Gebäude - in idyllischer Lage wie Legohäuschen in einer Parklandschaft. Vor jedem ein Schild, auf dem unter anderem zu lesen ist: "Vielleicht gehen ihre Träume ja in Erfüllung ..." und darunter "P.S.: Hier sollen nur liebevolle und romantische Menschen wohnen!"
Nichts für uns, denn wir haben uns mittlerweile in eine Debatte darüber verbissen, wie man sich nervige Pärchen vom Hals hält. Auf der Wiese neben der Kneipe findet gerade ein Bildhauersymposium statt. Der Hiddenseer Künstler Jo Harbort veranstaltet es in diesem Jahr zum zweiten Mal. Nun wird uns klar, warum überall auf der Insel diese "Künstlerspielplätze" zu finden sind. Bei den Spielmöbeln handelt es sich meist um ein Ensemble aus Holzskulpturen, was ihnen den Charakter einer pädagogischen Einrichtung verleiht.
Als wir den Weg zurück antreten, sind die Kraniche gerade im allabendlichen Anflug auf ihren Schlafplatz im Rügener Bodden. Wir sind uns jedoch uneinig, ob es sich dabei nicht um Kanadagänse handelt. Ein blutroter Sonnenuntergang verheißt einen weiteren sonnig-kalten Herbsttag. Die Leute sitzen noch immer in den Gartenlokalen und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Ein Vater läuft mit seinem kleinen Sohn an uns vorüber: "Ach komm, jetzt hast du so ein schönes Wochende gehabt! Wir waren auf dem Leuchtturm, du durftest reiten, die tolle Fahrt mit dem Fischkutter, das viele Sanddorneis ... Musst du denn Mama immer so traurig machen ..."

SCHLEIERDEBATTE DIE 1000 UND ERSTE

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Marsfrauen im Tschador

von Antonia Herrscher


Der Himmel spiegelt die Erde wieder

die Augen des Gendarmen die blinkenden Minarette

Salah Abd al-Sabur


Wenn eine Polizeiwache religiös sein könnte, würde sich ihr der Islam als die ideale Religion anbieten: strenge Einhaltung des Reglements; Musterung und Körperhygiene; männliche Promiskuität sowohl im geistigen Leben wie bei den organischen Verrichtungen; keine Frauen.“ schrieb Claude Lévi-Strauss in seinem letzten Buch “Traurige Tropen”, an dessen Ende er die Weltreligionen miteinander verglich. In Sorge um die Tugend der Frauen komme der Islam stets auf die einfachen (zu einfachen) Ideen: Man wirft ihnen einen Schleier um – auf diesem Wege kommt man zur modernen Burkha. Doch diese Verschiebung der Barriere führe nun schon bei der kleinste Berührung zu einem unauflösbaren Konflikt im Kopf des Gläubigen.

Als der Westen aber begann, sich am Islam abzuarbeiten – und das beginnt für Lévi-Strauss mit den Kreuzzügen – habe er „die Chance verspielt, Frau zu bleiben“. Er vermackerte gewissermaßen an seinem Gegenüber. Was an dieser, gerade was die angebliche historische Weiblichkeit des Westens angeht, etwas steilen These überzeugt, ist der Griff an die eigene Nase.

Europa vermackert gerade gewaltig. Das Erstarken einer neuen Rechten in Belgien, Finnland, den Niederlanden, Ungarn und Österreich ist einer Wählerschaft zu verdanken, die jung ist, weiß, männlich und schlecht ausgebildet. Der Ton ist rüde, man ist gegen die EU und die Währungsunion - die größte gefahr ist der Islam. Meist im Sommerloch, in diesem Jahr schon ein wenig früher, kommt dann der Schleier der islamischen Frau auf den Tisch. Frankreich und Belgien haben ein Burkaverbot durchgesetzt. Schon die geschätzte Anzahl von etwa 2000 Burkaträgerinnen in ganz Frankreich macht deutlich, um was es geht. Bestimmt nicht um die Unterdrückung der Frauen. Nach dem Vorstoß der dänischen Rechtspopulistin Pia Merete Kjærsgaard zu einem Burka-Verbot in Dänemark, konnte im ganzen Land keine einzige Burka-Trägerin gefunden werden.

Mit dieser Ausnahme, ist die Diskussion um den Schleier der Musliminnen eine mänlich geführte. In der vergangenen Woche schwappte das Thema dann auch nach Deutschland über und wurde von dem SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer aufgegriffen. Er lobte die Durchsetzung des Burka-Verbotes in Frankreich und regte an, dies auch in Deutschland zu diskutieren, denn in Europa werde diese Debatte über das „Symbol der Unterdrückung der Frauen“ immer stärker geführt: „Wir sollten uns da auch positionieren.“ Kurz zuvor hatte er das in weiten Teilen rassistische und islamfeindliche Buch seines Parteikollegen Thilo Sarrazien „Deutschland schafft sich ab“ damit verteidigt, dass die SPD eben eine Partei mit großer Meinungsvielfalt sei. Zunächst wurde das Thema dann durch die Ermordung Osama bin Ladens an den Rand gedrängt. Scheinbar – den es ja das gleiche Thema.

Nun haben die Grünen in Niedersachsen ein Burka-Verbot im öffentlichen Dienst vorgeschlagen – obwohl es in ganz Niedersachsen keine vollverschleierte Frau im öffentlichen Dienst gibt. Eine Art Präventivschlag des innenpolitischen Sprechers der Grünen, Ralf Briese, der auf seine Partei in Hannover im Herbst eine "komplizierte rechts-, integrations- und frauenpolitische Frage" zukommen sieht. Am 11. September 2011 sind dort Kommunalwahlen. Was für ein Datum.

Botho Strauß schrieb kurz nach dem Attentaten des 11. September 2001 nun breche der Kampf „des Bösen gegen das Böse“ an. Der Orient muss mit all den Bildern, die der Westen für ihn bereit hält, seit langer Zeit für das rätselhafte und gefürchtete Fremde herhalten – auch als Spiegelbild für uns selbst. Seiner Rückständigkeit halten wir stets seine „eigentümlichen Mischung aus Pornos und Pressefreiheit, aus Coca-Cola und Cruise Missiles“ entgegen, wie es Jakob Augstein in der letzten Woche formulierte.

Also wieder runter mit dem Schleier. Wir wollen sehen, was sich dahinter verbirgt. Kürzlich zog sich die „GZSZ-Deutsch-Türkin“ Sila Sahin für den Playboy aus und bezeichnete dies selbst als Akt der Emanzipation. Der Westen stellt dem Schleier des Islam die Nacktheit gegenüber. Er antwortet mit der Enthüllung des weiblichen Körpers. Für die Filmemacherin Alina Marazzi gehört die vollkommene Entblößung der Frauen in Italien sogar zum politischen (Macho-) „System Berlusconi“. In den Fernsehstudios des regierenden Ministerpräsidenten moderieren junge Frauen mittlerweile im Bikini den Wetterbericht.

In Innen- wie Aussenpolitik macht die Menge des Textils an weiblichen Körpern noch immer deutlich, wer das Ruder in der Hand hat: Im Jahre 2003, kurz nach dem „Sieg“ der USA über die Taliban, nahm die in Afghanistan geborene Vida Samadzai als „Miss Afghanistan“ in einem knallroten Bikini, der besondere Aufmerksamkeit erlangte, an der Wahl zur „Miss Earth“ teil – was ihr den Spezialpreis „beauty for a cause“ einbrachte und die „Königinnenwürde“ als Belohnung für die „vorbehaltlose Assimilation“ an das westliche Frauenbild. – das ist ein ganz alter Hut.


Wie sexualisiert die Demonstration nationaler Macht ist, zeigt ein historisches Beispiel aus den USA: Wenige Tage nach den Atombombentests auf dem Bikiniatoll im Juli 1946 präsentierte der Modeschöpfer Louis Réard in dem Pariser Schwimmbad „Molitur“ den „kleinsten Badeanzug der Welt“ und nannte ihn Bikini. Der für Atomenergie zuständige Redakteur der New York Herald Tribune schrieb daraufhin begeistert: „Die erste Präsentation des Bikini-Badeanzuges verursachte heute eine Kettenreaktion unter der Menge der Sportbekleidungsexperten, die kurz nach der explosiven Show in die Molitur-Lagune eingedrungen waren.“ Christina von Braun und Bettina Mathes bezeichneten in ihrem Buch „Die verschleierte Wirklichkeit“ die enthüllte Frau deshalb als die „Inkarnation der Massenvernichtungswaffe mit bis dahin ungekannter Zerstörungskraft“.

In der Geschichte ist die Verschleierung der Frauen zur Etablierung neuer Herrschaftsstrukturen immer wieder herangezogen worden. Im Iran geschah dies im 20. Jahrhundert gleich zweimal: Reza Schah verfügte in den dreißiger Jahren eine Zwangsentschleierung der Frauen nach dem Vorbild der Türkei, die 1979 im Zuge der Iranischen Revolution mit dem Schleierzwang wieder beendet wurde. Frauen, die zuvor ihren Protest gegen den Schah Ausdruck verleihen wollten, taten dies, indem sie demonstrativ den Schleier anlegten.

Aber dieser Kampf hat einen noch viel längeren Bart: Im Osmanischen Reich sah sich Sultan Mehmet schon kurz nach der Eroberung Konstantinopels 1453 genötigt, die Verschleierung der osmanischen Frauen zu regeln, da sie nicht ausreichend von den Christinnen zu unterscheiden waren. Seine Gesetze zur Regelung der Kopfbedeckung waren nur die ersten in einer Reihe von Verordnungen, mit denen die islamischen Herrscher in Istanbul die muslimische Identität des Schleiers bis zum Ende des Osmanischen Reiches zu bewahren versuchten. „Mal sollte die Kleidung der islamischen Frau farbig sein, damit sie sich von den Christinnen unterscheide, mal sollte sie dunkel sein. Mal war der schwarze „Tscharschaf“ (Überhang) die einzige ehrbare islamische Kleidung, dann sollte er wieder abgeschafft werden, weil es dem Sultan mulmig wurde bei so vielen vermummten Gestalten“, so Meral Akkent und Gaby Franger 1987 zur Geschichte des Kopftuches in der Türkei. Mustafa Kemal Atatürk erklärte dann die Entschleierung der Frau zum Zeichen der Modernisierung und ihre Sichtbarwerdung zum Ausdruck eines Zivilisationswandels. Schon 1929 fanden die ersten Miss Turkei-Wahlen statt - auf Initiative der republikanisch orientierten „Cumhuriyet“, die bis 1932 die Wahlen ausrichtete.

Der Tourist erkennt die Algerische Gesellschaft am Schleier“, so der französische Arzt Frantz Fanon, der während der Aufstände im von Frankreich kolonisierten Algerien in den 1950er Jahren als Chefarzt in einem Krankenhaus arbeitete und sich später der Befreiungsfront FLN anschloss. In seinem Aufsatz „Algerien legt den Schleier ab“ stellt er fest, dass der Schleier für den Westen den weiblichen Teil einer Gesellschaft abbildet. Fanon war der Ansicht, das französische Regime verfolge mit seinen Zwangsentschleierungen und Entschleierungskampagnen mit samt der aus Frankreich berufenen Sozialarbeiterinnen, eine Strategie, die der Prämisse folge: „Wenn wir die Frauen gewonnen haben, haben wir den Kampf gewonnen“. Oder: „Wenn wir die algerische Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhang, in den Grundfesten ihres Widerstandes treffen wollen, müssen wir zunächst die Frauen erobern. Wir müssen sie in dem Schleier suchen, hinter dem sie sich verbergen, und in den Häusern, in denen sie der Mann versteckt“. Vermutete man hinter dem offenkundigen Patriarchat ein verborgenes Matriarchat?

Carla Bruni soll ja einmal gesagt haben, sie wolle einen Mann mit Atombombe. Ihr Mann läge bei einer Wahl nach den letzten Umfragen gerade noch abgeschlagen bei 18% der Wählerstimmen. Die Front National hingegen wäre auf Platz Zwei. Nikolas Sarkozy muss nicht nur einen Libyen-Einsatz rechtfertigen, auch innenpolitisch steht er unter großem Druck. Mit der von ihm angeführten Integrationsdebatte und dem Verbot der Burka lenkt er mit einigem Erfolg die Aufmerksamkeit auf Themen, die als Bedrohungsszenarien nicht allein von den rechten Gruppen angeführt werden dürfen aber schwer im Trend liegen: Ende April berichtete das Online-Magazin „Mediapart“, der französische Fußballverband wolle in seinen Ausbildungszentren die Anzahl der Spieler mit Migrationshintergrund senken, um in der Nationalmannschaft weniger Schwarze und Araber zu haben.

Sarkozy wollte kürzlich „mit einem Hochdruckreiniger“ die Vorstädte säubern, in denen die Nachkommen kolonisierter Franzosen leben und die nun – nachdem man sie dorthin verdrängt hat – als Bedrohung vor den Toren der Stadt lauern. Thematisiert wird an ihnen ein Auseinanderbrechen einer Gesellschaft, zu der sich gar nicht mehr gezählt werden.

Googelt man Schleier und Sex erscheint eine endlose Liste von Einträgen, die zeigen: Unter dem Schleier liegt das Negligé. So kommt es, dass der Spiegel-Autor Romain Leick in dem erotischen Roman „Die Mandel“ der marokkanischen Autorin mit dem Pseudonym Nedjima 2005 „Einen Aufstand“ und „Akt des politischen Widerstandes“ sieht. Es geht um „Sex unter dem Schleier“. Ausführlich zitiert wurde in der Buchbesprechung dann vor allem die Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht der Romanheldin. Dies lässt nun wieder an die Berichte Frantz Fanons aus der Psychatrie in Algerien denken, nach denen den Vergewaltigungsfantasien westlicher Männer stets der Akt des Zerreissens des Schleiers vorausgeht. Sowohl die Nedjiima als auch der libysche Autor Hisham Matar beschreiben denn auch die gewaltsame Entjungferung in der Hochzeitsnacht als das „Durchstoßen des Schleiers“.

Dass der Westen nur schwer ohne das Bild des verhüllenden Textils auskommt, beschrieb kürzlich auch die jordanisch-britische Autorin Fadia Faqir: „Weiblichen arabisch-muslimischen Schriftstellerinnen wird sofort die Rolle der Untergeordneten aufgezwängt und diese mit dem Schleier verknüpft.“ Buchillustratoren entscheiden sich bei einem Buch arabisch-muslimischer Autorinnen grundsätzlich für das Bild des Schleiers, auch wenn es in der Lektüre überhaupt nicht vorkommt und trivialisieren es damit. „Ich könnte über Außerirdische im Weltall schreiben und die Graphiker und Horden von PR-Teams würden ihnen afghanische Burkas anziehen.“ schildert sie ihren Ärger über die ewige Wiederkehr dieser Stereotypen. Ihren männlichen Kollegen wird da noch etwas mehr zugetraut und es ziert auch mal ein den Koran lesender Junge das Cover – oder orientalische Rundbögen. Auch wenn das Buch eigentlich in Schottland spielt.

Es geht bei dem Schleier auch um das rätselhafte westliche Subjekt im Spiegel des „Rätsel Islam“. Dass an diesem Subjekt mitunter auf paradoxe Weise die Geschlechterordnung verhandelt wird, zeigt auch dieses schöne Beispiel: Nachdem Großbritannien 1882 Ägypten besetzt hatte, wurde der Repräsentant der englischen Krone, Evelyn Baring, zu einem der Vorkämpfer für die Entschleierung und die „Befreiung der Frau“ im besetzten Land. In seinem Heimatland war Baring dagegen Mitbegründer und Vorsitzender der ‚Men´s League for Opposing Women´s Suffrage’ – Liga der Männer gegen das Frauenstimmrecht.