Montag, 24. Oktober 2011

taz vom 22.12.2007

Farbfilm vergessen ...

Hiddensee - Insel sein

"In den Zeiten des Verrats sind die Landschaften schön" (Heiner Müller). Die Insel Hiddensee ist bekannt für ihre Streitkultur: Thomas Mann und Gerhard Hauptmann, Nina Hagen und Mischa VON ANTONIA HERRSCHER UND HELMUT HÖGE
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"Du hast den Farbfilm vergessen ..." 
Kühe auf Hiddensee © Antonia 2011
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"Mein Fahrrad ist viel schwerer als deins!", sagt eine junge Frau neben uns zu ihrem Mann, als wir den Hafen von Kloster auf Hiddensee erreichen. Zahlreiche Pärchen machen sich gerade daran, dass Knäuel aus mitgebrachten Drahteseln zu entwirren. "Das haben wir dir doch nur zum Einstieg gekauft, Schatz. Wenn sich herausstellt, dass es dir wirklich Spaß macht, dann kaufen wir ein besseres für dich. Es muss ja nicht gleich ein Rolls-Royce sein ..." Sie versucht das Rad über die Gangway zu heben. "Dann hilf mir wenigstens! Verdammt ..."
Die malerische Insel nahe Rügen wird jedes Jahr von 100.000 Urlaubern besucht, davon sind 80 Prozent Paare mit und ohne Kinder. Jetzt im Herbst dominieren Individualreisende. Wie die Kurverwaltung ermittelte, wird der Urlaub auf Hiddensee meist mit dem Ehe- oder Lebenspartner verbracht. Alter, 35 bis 55, mittleres Einkommen, Hauptmotive für den Urlaub sind Ruhe und Natur, "Autofreiheit", der weite Himmel, die von Farben umspülte Insel und ein ganz besonderes Licht. Da bleiben Spannungen nicht aus.
Der spektakuläre Sonnenuntergang inspiriert uns zu einem ersten Erfrischungsgetränk in der Hafenbar, die wir sogleich am Anleger entdeckt haben. "Können wir zwei Martini bekommen?" "Martina? Ham wir nicht." "Dann zwei Bier bitte." "Wir ham schon zu." Das fängt ja gut an!
Auf der Kutschfahrt ins Hotel streiten wir uns bereits über die Schlafgewohnheiten von Kranichen und wer daran schuld ist, dass das Handy zuhause liegen blieb. Die Insel Hiddensee ist bekannt für ihre gehobene Streitkultur. Gerhart Hauptmann lud Thomas Mann einst ein, den Sommer gemeinsam mit ihm auf seiner Lieblingsinsel zu verbringen. Schon nach einer Woche reisten die Manns verärgert wieder ab. Gerhart Hauptmann hatte Thomas Mann all zu deutlich zu verstehen gegeben, dass es seine Insel war. Thomas Mann rächte sich später, indem er Hauptmanns Unfähigkeit frei zu sprechen, in einem seiner Romane verwurstete.
Nina Hagen stritt sich 1984 auf Hiddensee lauthals mit einem Micha: "Du hast den Farbfilm vergessen!" Das Lied kann man bis heute als Hiddenseer Sommerhit bezeichnen. Zuletzt, 2003, recherchierte eine Zeit-Journalistin hinter dem ominösen Micha her. Sie machte die Romantik der Insel dafür verantwortlich, "dass Nina wegen des läppischen Farbfilms einen Streit mit ihm vom Zaun brach: 'So böse stampfte mein nackter Fuß im Sand / und schlug ich von meiner Schulter deine Hand'." Wer war Micha und wo steckt er heute? Der Kurdirektor, der Bürgermeister und die ganze Insel hielten jedoch dicht. Ihre Suche verlief also im Sand. Stattdessen geriet sie mit dem Kurdirektor und ihrem Fotografen aneinander, darüber ob man einen Streit ins Bild setzen kann ...
"Die Möwen greifen nur den an, der ihr Nest gefährdet`". Das ist das Motiv eines auf Hiddensee spielenden Inselkrimis von Claus Wiesner, den das DDR-Fernsehen verfilmte. Ein geschasster Wissenschaftler prügelt sich im Suff mit dem Liebhaber seiner Frau und stürzt dabei von der Steilküste. Über 30 Prozent aller Scheidungen werden nach dem Urlaub eingereicht, sagt die Statistik. Hiddensee war und ist dafür als begehrter und inzwischen nicht mehr ganz billiger "Hide-Away" besonders prädestiniert. Harmloser als im "Möwennest" ging die Ehe der Ethnologin Jeannina Lilienthal auseinander, nachdem sie 1991 Aljoscha Rompe, den Sänger der ersten DDR-Punkgruppe "Feeling B" auf Hiddensee getroffen hatte: "Ich war eine Woche allein auf der Insel und er ebenso. Wir trafen uns jeden Tag zufällig nachmittags oder abends … Mein Ehemann verließ im September meine Wohnung in Berlin, er erkannte die Situation sehr schnell." Schon bei der Verfilmung des Lebens von Aljoscha Rompe und seiner Band war es 1985 auf Hiddensee zu einem Zerwürfnis zwischen dem Regisseur Dieter Schumann und seinem Co-Autor Jochen Wisotzki gekommen. Letzterem war das Doku-Projekt "Flüstern & Schreien" nicht politisch genug.
Wir beschließen am Abend ins Zeltkino nach Vitten zu gehen. Obwohl das Programm keine Abwechslung verspricht: Es läuft dort der neue Film von Julie Delpy: "2 Tage Paris". Er handelt vom hektischen New Yorker Leben eines Amerikaners und einer Französin, das ihrer zweijährigen Beziehung zugesetzt hat. Sie beschließen, "ein Urlaub soll es richten, der endet aber als Beziehungsdesaster". Nach dem Kinoerlebnis haben wir Hunger. Im Godewind ist noch was los. Wir bestellen Nudeln. Jörg Kachelmann, der auf Hiddensee eine Wetterstation leitete, behauptete kürzlich, dass man auf der Insel überall gut essen könne. Noch kauend beschließen wir, ihn dafür zur Rede zu stellen.
Am nächsten Morgen machen wir bei strahlendem Sonnenschein ein paar schöne Schwarz/Weiß-Bilder von der beeindruckenden Dünenheide im Süden. Dabei kommen wir vom Weg ab und erschrecken, als plötzlich kein Nationalparkwächter, aber ein Muflon aus dem Gebüsch springt. Beim Lesen an einer windgeschützten Stelle im Sand dann die zufällige Entdeckung im neuen Berlin-Roman "Teil der Lösung" von Ulrich Peltzer: "Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal am Meer war, es könnte tatsächlich Carolin gewesen sein, eine halbe verregnete Woche auf Hiddensee, die das Ende ihrer Beziehung nur beschleunigt hatte ..." Auffallend viele verlassene Autoren neigen dazu, das Scheitern von Beziehungen auf falsches Urlaubswetter zurückzuführen. Während unseres Strandspaziergangs zurück nach Kloster - weil es die Tage zuvor anständig gestürmt hat, suchen wir unterwegs nach Bernstein und fotografieren Reliefs im Sand - stoßen wir nahe am Wasser auf eine einsame Person, die mit einem grossen Mikrophon in der Hand vor zwei Kameras steht und über das Wetter redet. Der Mann, der nicht Jörg Kachelmann ist, nimmt live eine Vorhersage für RBB auf. Die Wetterlage bleibt angeblich stabil.
Im Restaurent unseres Hotels kommen wir neben einem Ehepaar aus Potsdam zu sitzen. Die etwas zu dick panierte Scholle bringt uns ins Gespräch. "Ich kenn die Insel schon seit 30 Jahren", behauptet der Mann. Die Frau schweigt. Der Mann schwelgt in der Schilderung verschwiegener Plätze und den schönen Zeiten von damals. Wir ahnen, dass sie es leid sein könnte, von ihrem Mann von einer Stätte seines früheren Wirkens zur nächsten geschleppt zu werden und eigentlich sowieso lieber in den Bergen Urlaub machen würde. Abwechselnd bestellen wir Sanddorngeist und Bier. "Wir haben heute die Große Kranichtour auf der MS Schaprode mitgemacht", erzählt der Mann. "Ein tolles Erlebnis - mehr als 10.000 Vögel, die jeden Abend am Großen Jasmunder Bodden ihren Schlafplatz einnehmen. Das können wir nur empfehlen. Ferngläser kann man an Bord leihen."
"Also, ich fand’s scheiße ...", meldet sich die Frau leise zu Wort und alles verstummt. Dann etwas beherzter: "Über 4 Stunden waren wir unterwegs, um 20 Minuten irgendwelche Vögel in der Ferne zu beobachten. So weit weg, dass es von mir aus auch Enten oder Kamele hätten sein können. Es war saukalt. Den ganzen Nachmittag hab ich einen Kaffee nach dem anderen getrunken und zu Essen gab es an Bord nur schlechte Currywurst mit Kartoffelsalat."
Der erfahrene Wirt rettet die Stimmung mit einer Runde Goldkrone aufs Haus. Wir wünschen uns etwas von "Feeling B". Der Wirt prüft kurz die Lage im Raum und meint selbstbewusst: "OK, keiner mehr da, den das stören könnte ..." Womit der Chef nicht gemeint sein kann, der sich am Tresen gerade nächtlicher Gemeindepolitik widmet. Die jungen Mädchen am Nachbartisch beginnen zu schunkeln, als der Wirt danach noch Karat und Gundermann auflegt. Fast kommt es einem so vor, als ob hier den ganzen Tag eine Art Muppet-Show für Wessis gegeben wird - aber nur so lange, bis der letzte den Raum verlassen hat. Denn plötzlich trinken wir im guten alten Osten ...
Wir flüchten mit unseren Getränken an den Tresen, um dem Mann allerhand Fragen über Muflons, Kraniche und Ost-Bands zu stellen. Über das Muflon erfahren wir, dass es normalerweise natürlich auch lieber in den Bergen wäre und über den Kranich, dass dieser für Glück und ewiges Leben stehe. Weil sie als Paar ein Leben lang zusammen bleiben, seien diese Vögel auch ein Symbol für Treue. Vielleicht wirbt die Kurverwaltung deswegen so für die Kranichtour - als eine Art Gegengift zum allgemeinen Reizklima der Insel? Eine weitere Anpassung an westliche Bedürfnisse: Speziell für Allergiker und Menschen, die an Asthma leiden, wird auf Hiddensee ein Fastenkurs angeboten. Nach dem 2. Weltkrieg lag die Zahl der allergiekranken Menschen in Ost wie West bei etwa 7 Prozent. Während sich die Rate im Westen in den 50er Jahren schon verdoppelt hatte, nahm diese im Osten kaum zu. Seit der Wende haben die Neuen Bundesländer nun aber doch nachgezogen. In Westdeutschland spricht man nach Auskunft des Deutschen Ärztekongresses von 43, im Ostteil der Republik von etwa 30 Prozent. Man ist also der "Inneren Einheit" auf den Fersen.
Uns überfallen auch auf Hiddensee noch gelegentlich Niesanfälle, was wir jedoch nicht auf die salzige Seeluft, sondern auf unsere eigene leichte Gereiztheit zurückführen. Am nächsten Tag entscheiden wir uns für einen weiteren langen Spaziergang - diesmal ans nördliche Ende von Hiddensee. Der Tag ist fast windstill und in der Sonne wird es uns bald sehr warm. Die Luft erfrischt unseren Geist, wenngleich wir an der Spitze der Insel noch nicht in der Lage sind, die Playlist des gestrigen Abends zu rekonstruieren. Dort besteigen wir den Dornbusch, ein Geschiebemergelkern, von dem aus man einen weiten Blick über die Insel hat. Oben an der Gaststätte Klausner stehen drei winzige weiße Gebäude - in idyllischer Lage wie Legohäuschen in einer Parklandschaft. Vor jedem ein Schild, auf dem unter anderem zu lesen ist: "Vielleicht gehen ihre Träume ja in Erfüllung ..." und darunter "P.S.: Hier sollen nur liebevolle und romantische Menschen wohnen!"
Nichts für uns, denn wir haben uns mittlerweile in eine Debatte darüber verbissen, wie man sich nervige Pärchen vom Hals hält. Auf der Wiese neben der Kneipe findet gerade ein Bildhauersymposium statt. Der Hiddenseer Künstler Jo Harbort veranstaltet es in diesem Jahr zum zweiten Mal. Nun wird uns klar, warum überall auf der Insel diese "Künstlerspielplätze" zu finden sind. Bei den Spielmöbeln handelt es sich meist um ein Ensemble aus Holzskulpturen, was ihnen den Charakter einer pädagogischen Einrichtung verleiht.
Als wir den Weg zurück antreten, sind die Kraniche gerade im allabendlichen Anflug auf ihren Schlafplatz im Rügener Bodden. Wir sind uns jedoch uneinig, ob es sich dabei nicht um Kanadagänse handelt. Ein blutroter Sonnenuntergang verheißt einen weiteren sonnig-kalten Herbsttag. Die Leute sitzen noch immer in den Gartenlokalen und genießen die letzten Sonnenstrahlen. Ein Vater läuft mit seinem kleinen Sohn an uns vorüber: "Ach komm, jetzt hast du so ein schönes Wochende gehabt! Wir waren auf dem Leuchtturm, du durftest reiten, die tolle Fahrt mit dem Fischkutter, das viele Sanddorneis ... Musst du denn Mama immer so traurig machen ..."

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